Bruder Spinne

Lachen, Verzweiflung und Überleben – das Theresienstädter-Tagebuch von Helga Pollak-Kinsky

Die kleine, ältere Dame saß unaufgeregt und sehr aufmerksam auf dem alten Sofa in unserem Lehrerzimmer. Auf der gegenüberliegenden Wand waren die Fächer der Lehrer, bereit für Post oder sonstige Nachrichten. „Jedes Fach steht für einen Lehrer? Das muss aber eine große Schule sein. In Theresienstadt hatten wir fast gar keinen geregelten Unterricht. Wir waren uns selbst überlassen.“ Helga Pollak-Kinsky, geboren 1930, hat als Kind fast zwei Jahre im KZ-Theresienstadt verbracht. Sie war Jüdin. Vom 27. Januar 1943 bis zum 23. Oktober 1944  lebte sie im Mädchenheim L410, Zimmer 28, anschließend wurde sie nach Auschwitz deportiert. Fehlende Namen, nur Nummern sind äußere Zeichen einer entmenschlichten Politik. In ihrem Tagebuch hielt Helga ihre Eindrücke fest, schreibt von ihrer Einsamkeit, ihrer Sehnsucht nach den Eltern, aber auch von den Eifersüchteleien unter Jugendlichen und dem Spaß, den sie trotz aller Trauer miteinander hatten. Im Zimmer 28 waren insgesamt 30 Mädchen untergebracht. Da gab es keine Möglichkeiten zum Rückzug, so dass die Einträge in ihr Tagebuch „Momente der Besinnung“ ermöglichten, zum „Refugium wurden, in dem sie in ihre eigene Welt eintaucht“. Mit diesen Worten beschreibt Hannelore Brenner-Wonschick, die Herausgeberin der Tagebücher, die Bedeutung des Aufschreibens für Helga. (Helga Pollak-Kinsky, Mein Theresienstädter Tagebuch 1943-1944, 2013, S. 9.)  

Das Thersienstädter-Tagebuch von Helga Pollak-Kinsky, erschienen 2014.

„Bruder „Spinne“, so nannte Helga ihr Tagebuch. Zwei der drei Bände sind erhalten, der mittlere Teil ging 1956 verloren. Somit sind die Tagebuchaufzeichnungen für diese Zeit verloren. Aber in einem Interview erzählt sie von dem Transport nach Auschwitz. Die Mädchen mussten in der Nacht raus aus den Zimmern, sich in Fünferreihen aufstellen und dann wurden sie in Baracken abgeführt und sollten sich dort auf Pritschen legen. Eine Aufseherin notierte Namen und Geburtsdatum. Helga erinnert sich: „Sie sagte uns: `Niemand darf unter 18 sein. Sonst kommt ihr in ein Arbeitslager.´  Handa und ich wurden um vier Jahre älter gemacht. Unser neues Geburtsdatum war 1926. Das hat uns das Leben gerettet“. (Ebd. S. 247.) Alles musste schnell gehen, aber eine Widmung ins das Poesiealbum ihrer Freundin, einen Tag vor dem Transport, ist erhalten. Helga schreibt an ihre Freundin Flaska:

„Liebe Flaska, 
ich hoffe, dass wir uns einmal wieder begegnen in schöner Natur, wo alles frisch ist und duftet, wo wir  frei atmen und unsere Ideen verwirklichen können und nicht leben wie hier, in dieser Gefängniszelle. Und wenn wir älter und ein bisschen gescheiter sind, werden wir vielleicht eines Abends, wenn es dunkel wird und die Sterne am Himmel aufleuchten und dem Meer silbernen Glanz verleihen, am Strand sitzen und an unsere Freunde und an unsere Sorgen denken, die wir vor vielen Jahren in Theresienstadt hatten.“ (22. Oktober 1944)

Helga blieb in Auschwitz bis Oktober 1944. Mit einigen anderen Mädchen wurde sie dann nach Oederan in Sachsen abtransportiert, in ein Außenlager des KZ Flossenbürg, um dort in einer Fabrik zu arbeiten, die Geschosshülsen produzierte. Die Befreiung erlebte sie wieder in Theresienstadt. Dort sieht sie endlich nach der Befreiung auf ihren Vater. Diesen Moment beschreibt sie als denjenigen ihrer Rettung.

Helga Pollak-Kinsky las bereits zweimal am Gymnasium Bad Aibling aus ihren Erinnerungen. In der anschließenden Gesprächsrunde wurde sie gefragt, wie es den Kindern gelang zu überleben. Da hat sie geantwortet, dass es keinen anderen Gedanken gab als zu überleben, und zu ihren Familien  zurückzukehren. Und dass sie froh waren nicht alleine zu sein. Beim gemeinsamen Spielen hätten sie auch viel Spaß gehabt und viel gelacht. Der Fragende hörte fassungslos zu und ließ seinem Ärger und seinem Unverständnis freien Lauf. Es sei unmöglich über diese Situation in solchen Worten zu reden. Schließlich könne in diesem Elend doch nichts lustig gewesen sein. Helga antwortete lächelnd und ruhig: „Wie hätten wir denn dann überleben können, wenn wir uns nicht ablenken hätten können.“ 

Helga Pollak-Kinsky – ein Moment der Erinnerung.

Nach dem Krieg sah sie endlich ihre Mutter wieder, der es gelang, kurz nach der Machtergreifung in Prag 1938 mit einem Schiff nach London zu fliehen. Da hatte sie noch die Hoffnung, dass ihre Familie  nachkommen würde. Aber alle Versuche, Helga mit einem Kindertransport nach England zu bringen, scheiterten. Helga sollte ihre Mutter erst 1946 wiedersehen. 

Hannelore Brenner ist es zu verdanken, dass sich die Mädchen vom Zimmer 28 in den 90er Jahren wieder begegneten. 2004 erschien das Buch „Die Mädchen von Zimmer 28“, Hrsg. Hannelore Brenner-Wonschick, 2004. Grundlage der Veröffentlichung waren das Tagebuch von Helga und das Poesiealbum  ihrer Freundin Anna. Darin steht die Widmung: “Vergiss mich nicht!“ – „Ob du dich auch immer daran erinnern wirst, wer neben dir gelegen hat und deine gute Freundin war?“ (Ebd. S. 10.)

Von Anneliese Wittkowski

„Ich hatte Glück, ich habe überlebt.“
Aus dem Theresienstädter Tagebuch von Helga Pollak-Kinsky 1943-1944

Dienstag, 10 März 2020, 19.00 Uhr
in der Mensa des Gymansiums Bad Aibling, Max-Mannheimer-Str. 2

Mit Michael Stacheder (Sprecher) und dem Mittelstufenchor des Gymnasiums Bad Aibling unter der musikalischen Leitung von Susanne Tutert. Auswahl der Auszüge aus dem Tagebuch: Anneliese Wittkowski

Karten an der Abendkasse eine Stunde vor Beginn.
Eintritt 5,- EUR




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